Kleines Bernstein

Mitteldeutscher Verlag, 2021

Aus dem Litauischen von Markus Roduner. 

Späte Römerzeit – 2. Jahrhundert. Auf der Bernsteinstraße, die das Land des Volkes der Ästier an der Ostsee mit Rom verbindet, werden Bernstein, Pelze und Metalle gehandelt. Die siebenteilige Struktur des Romans – sieben Szenen, sieben Unterszenen und sieben Charaktere – balanciert das Historische, Mythische und Alltägliche aus.
In der für Aškinytė typischen kompakten, filmischen Prosa verflechtet sie die Schicksale zweier starker Frauen, die um ihren Platz in der Gesellschaft kämpfen. Selija ist die Frau des Stammesführers der Ästier, die sich ihrer Stellung bewusst ist und sie leidenschaftlich verteidigt. Glesum (lat. für Bernstein) ist eine ehemalige Sklavin aus einer vornehmen Familie, die Gondas, der Stammesführer, von einer Handelsreise auf der Bernsteinstraße mitbrachte. Sie wird seine heimliche Geliebte. Die Spannung zwischen diesen beiden Frauen – der Ehefrau und der Geliebten –, Liebe und Hass, Ehrgeiz, der Wunsch nach Macht und Sicherheit sowie Rituale und Magie treiben die Geschichte voran, die mehr poetische Rekonstruktion als historischer Roman ist. Die Autorin versteht es die Leserschaft in eine ferne, nur wenig zugängliche Vergangenheit zu führen.

Auszug aus dem roman:

 1. Schnee

Der Schnee lag so hoch, dass die Frau fast bis zum Knie einsank. Auch die Pelze, die sich um die muskulösen, mit Fellen umschnürten Beine flochten, störten beim Gehen. In einer Schulter der Frau klaffte eine tiefe Wunde, aus der ganz langsam Blut sickerte. Noch bevor die roten Tropfen den Boden erreichten, verschlang sie auch schon die blendende Weiße des Schnees.

Die Frau war mutterseelenallein. Sie wusste, dass sich im Umkreis, den sie mit ihren Sinnen erfassen konnte, kein anderer Mensch befand. Sie hätte ihn sonst gewittert oder gehört. Ihr Zuhause hatte sie weit hinter sich gelassen. Sie wusste, in welche Richtung sie gehen musste, konnte sich ausgezeichnet orientieren. Die anderen zu finden gehörte zu den Grundvoraussetzungen fürs Überleben, deshalb marschierte die Frau schon seit Tagen unbeirrbar nach Hause. Sie fühlte sich hungrig und erschöpft, doch sie durfte nicht anhalten. Schlaf hieß Tod.

Rundherum nichts auszumachen, nur Schnee, Schnee und nochmals Schnee. Und Wölfe. Noch kamen sie nicht gefährlich nahe, drehten nur in einigem Abstand ihre Runden um sie. Die Nüstern der Frau weiteten sich, sie schnupperte schweigend die Luft, erfüllt von Grausamkeit und dem Instinkt, um jeden Preis zu überleben.

Die Frau hatte keine Angst. Dieses Land war nie das ihre gewesen, hatte ihr niemals gehört. Ebenso wie ihr Leben.

Die Frau wusste nicht, wie man trauert. Und auch nicht, wie man weint. Oder Erbarmen zeigt. Und auch nicht, wie man wartet oder hofft. Das Einzige, von dem sie etwas verstand, war zu kämpfen und zu leben. Sie konnte dem Wolf direkt in die Augen sehen, aus dem Atem und dem Herzklopfen schließen, wer stärker ist.

Die Wölfe kamen immer näher, schlichen sich mit immer mehr Mut an. Sie sah ihre großen grauen Körper. Leises Knurren und blendendes Weiß.

Die Frau hob einen großen Knüppel vom Boden auf, drückte ihn fest in ihrer gesunden Hand zusammen, atmete aus und hieb mit aller Kraft auf den am nächsten bei ihr stehenden Wolf ein.

Es schneite immer stärker.